MAX FRISCH
TAGEBUCH
1946-1949 |
Du sollst dir kein Bildnis machen
Es ist bemerkenswert, daß wir gerade von dem Menschen, den
wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn
einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der
Liebe, daß sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der
Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen
möglichen Entfaltungen. Wir wissen, daß jeder Mensch, wenn man ihn
liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und daß auch dem
Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange
Be-kannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe
befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das
Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, daß wir mit den Menschen,
die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben; solang wir
sie lieben. Man höre bloß die Dichter, wenn sie heben; sie tappen
nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie greifen nach
allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach
Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen
voll, aller Geheimnisse voll, unfaßbar ist der Mensch, den man
liebt -
Nur die Liebe erträgt ihn so.
Warum reisen wir?
Auch dies, damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, daß
sie uns kennen ein für allemal; damit wir noch einmal erfahren, was
uns in diesem Leben möglich sei –
Es ist ohnehin schon wenig genug.
Unsere Meinung, daß wir das andere kennen, ist das Ende
der Liebe, je-desmal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht
anders, als wir an-zunehmen versucht sind - nicht weil wir das
andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt:
weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat,
darum ist der Mensch fertig für uns. Er muß es sein. Wir können
nicht mehr! Wir künden ihm die Bereitschaft, auf weitere
Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles
Lebendigen, das unfaßbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert
und enttäuscht, daß unser Verhältnis nicht mehr lebendig
sei.
»Du bist nicht«, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte:
»wofür ich dich gehalten habe.« Und wofür hat man sich denn
gehalten? Für ein Geheim-nis, das der Mensch ja immerhin ist, ein
erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht
sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.
Man hat darauf hingewiesen, das Wunder jeder Prophetie
erkläre sich teilweise schon daraus, daß das Künftige, wie es in den
Worten eines Propheten erahnt scheint und als Bildnis entworfen
wird, am Ende durch eben dieses Bildnis verursacht, vorbereitet,
ermöglicht oder mindestens befördert worden ist -
Unfug der Kartenleserei.
Urteile über unsere Handschrift.
Orakel bei den alten Griechen.
Wenn wir es so sehen, entkleiden wir die Prophetie wirklich
ihres Wun-ders? Es bleibt noch immer das Wunder des Wortes, das
Geschichte macht:
»Im Anfang war das Wort.«
Kassandra, die Ahnungsvolle, die scheinbar Warnende und
nutzlos Warnende, ist sie immer ganz unschuldig an dem Unheil,
das sie vorausklagt?
Dessen Bildnis sie entwirft.
Irgendeine fixe Meinung unsrer Freunde, unsrer Eltern, unsrer
Erzieher, auch sie lastet auf manchem wie ein altes Orakel. Ein
halbes Leben steht unter der heimlichen Frage: Erfüllt es sich
oder erfüllt es sich nicht. Mindestens die Frage ist uns auf die
Stirne gebrannt, und man wird ein Orakel nicht los, bis man es zur
Erfüllung bringt. Dabei muß es sich durch-aus nicht im geraden
Sinn erfüllen; auch im Widerspruch zeigt sich der Einfluß, darin,
daß man so nicht sein will, wie der andere uns einschätzt.
Man wird das Gegenteil, aber man wird es durch den ändern.
Eine Lehrerin sagte einmal zu meiner Mutter, niemals in ihrem
Leben werde sie stricken lernen. Meine Mutter erzählte uns jenen
Ausspruch sehr oft; sie hat ihn nie vergessen, nie verziehen; sie
ist eine leidenschaftliche und ungewöhnliche Strickerin
geworden, und alle die Strümpfe und Müt-zen, die Handschuhe,
die Pullover, die ich jemals bekommen habe, am Ende verdanke ich,
sie allein jenem ärgerlichen Orakel!...
In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die ändern
in uns hineinsehen. Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! auch wir sind
die Ver-fasser der ändern; wir sind auf eine heimliche und
unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns
zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die
Ausschöpfung dieser Anlage. Wir sind es, die dem Freunde,
dessen Erstarrtsein uns bemüht, im Wege stehen, und zwar dadurch, daß unsere Meinung, er sei erstarrt, ein weiteres Glied in jener
Kette ist, die ihn fesselt und langsam erwürgt. Wir wünschen ihm,
daß er sich wandle, o ja, wir wünschen es ganzen Völkern! Aber darum
sind wir noch lange nicht bereit, unsere Vorstellung von ihnen
aufzugeben. Wir selber sind die letzten, die sie verwandeln. Wir
halten uns für den Spiegel und ahnen nur selten, wie sehr der andere
seinerseits eben der Spiegel unsres erstarrten Menschenbildes ist,
unser Erzeugnis, unser Opfer.
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Georg Büchner
1813-1837
|
An
die Familie
Gießen, im Februar
1834.
[…]
Ich verachte Niemanden, am wenigsten wegen seines
Verstandes oder seiner Bildung, weil es in Niemands Gewalt liegt,
kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden, – weil wir durch
gleiche Umstände wohl Alle gleich würden, und weil die Umstände
außer uns liegen. Der Verstand nun gar ist nur eine sehr
geringe Seite unseres geistigen Wesens und die Bildung nur eine sehr
zufällige Form desselben. Wer mir eine solche Ver-achtung vorwirft,
behauptet, dass ich einen Menschen mit Füßen träte, weil er einen
schlechten Rock anhätte. Es heißt dies, eine Rohheit, die man Einem
im Körperlichen nimmer zutrauen würde, ins Geistige übertragen, wo
sie noch gemeiner ist. Ich kann Jemanden einen Dummkopf nennen, ohne
ihn deshalb zu verachten; die Dummheit gehört zu den
allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Dinge; für ihre Existenz
kann ich nichts, es kann mir aber niemand wehren, Alles, was
existiert, bei seinem Namen zu nennen und dem, was mir unangenehm
ist, aus dem Wege zu gehn. Jemanden kränken, ist eine Grausamkeit,
ihn aber zu suchen oder zu mei-den, bleibt meinem Gutdünken
überlassen. Daher erklärt sich mein Betra-gen gegen alte
Bekannte; ich kränkte Keinen und sparte mir viel Lange-weile; halten
sie mich für hochmütig, wenn ich an ihren Vergnügungen oder
Beschäftigungen keinen Geschmack finde, so ist es eine
Ungerechtigkeit; mir würde es nie einfallen, einem Anderen aus dem
nämlichen Grunde einen ähnlichen Vorwurf zu machen. Man nennt mich
einen Spötter. Es ist wahr, ich lache oft, aber ich lache
nicht darüber, wie Jemand ein Mensch, sondern nur darüber,
dass er ein Mensch ist, wofür er ohnehin nichts kann, und
lache dabei über mich selbst, der ich sein Schicksal teile. Die
Leute nennen das Spott, sie ertragen es nicht, dass man sich als
Narr produziert und sie duzt; sie sind Verächter, Spötter und
Hochmütige, weil sie die Narrheit nur außer sich suchen. Ich
habe freilich noch eine Art von Spott, es ist aber nicht der der
Verachtung, sondern der des Hasses. Der Hass ist so gut
erlaubt als die Liebe, und ich hege ihn im vollsten Maße gegen die,
welche verachten. Es ist deren eine große Zahl, die im
Besitze einer lächer-lichen Äußerlichkeit, die man Bildung, oder
eines toten Krams, den man Gelehrsamkeit heißt, die große Masse
ihrer Brüder ihrem verachtenden Egoismus opfern. Der Aristokratismus
ist die schändlichste Verachtung des heiligen Geistes im Menschen;
gegen ihn kehre ich seine eigenen Waffen; Hochmut gegen Hochmut,
Spott gegen Spott. – Ihr würdet euch besser bei meinem Stiefelputzer
nach mir umsehn; mein Hochmut und Verachtung Geistesarmer und
Ungelehrter fände dort wohl ihr bestes Objekt. Ich bitte, fragt ihn
einmal … Die Lächerlichkeit des Herablassens werdet Ihr mir doch
wohl nicht zutrauen. Ich hoffe noch immer, dass ich leidenden,
gedrückten Gestalten mehr mitleidige Blicke zugeworfen, als kalten,
vornehmen Herzen bittere Worte gesagt habe. – […]
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